Kurz bevor die Pandemie Frankreich erreicht, verliert Karelle im vergangenen Jahr ihr ungeborenes Baby. Von einem Moment auf den anderen fällt die erfolgreiche, im sonnigen Toulouse lebende IT-Projektmanagerin und Mutter einer großen Patchwork-Familie aus dem Leben. Krankgeschrieben verbringt Sie viel Zeit zu Hause. Zusätzlich schränkt der Lockdown ihren Bewegungsradius immer stärker ein. Zuerst merkt sie gar nicht, wie schlecht es ihr geht. Doch jedes Mal, wenn sie das Haus verlässt, steigt eine nie dagewesene Angst in ihr auf und mündet in heftigen Panikattacken. Karelle leidet unter Agoraphobie, eine Angststörung, die ungefähr vier Prozent der Bevölkerung einmal im Leben ereilt und findet lange keine Hilfe. Im Januar dieses Jahres kommt ein Schlaganfall dazu. Plötzlich wird ihr bewusst, welcher Stress die vergangenen Jahre auf ihren Schultern gelastet hat. Bei ihren Online-Recherchen stößt sie auf Mindable, eine App aus Deutschland, die ihr dabei hilft, mit ihrer Panik umzugehen und die Wartezeit für einen passenden Therapieplatz zu überbrücken. Seit Mai können sich Patient:innen in Deutschland die App von ihren Hausärzt:innen oder Psychotherapeut:innen verordnen lassen oder die Kostenübernahme mit einer entsprechenden Indikation direkt bei der Krankenkasse beantragen. Karelle hat mir geschildert, was die Mental Health App leistet und wo ihre Grenzen sind.
Foto von Sarah Trummer
Karelle gehört zur Generation C64 und damit zu einer Bevölkerungskohorte, die mit Heimcomputern und Spielkonsolen groß geworden und heute bestens vertraut mit digitalen Anwendungen wie Car-Sharing, Online-Tickets und Internet-Banking ist. Und auch wenn es Lebensbereiche gibt, in denen sie sich selbst als "vintage" bezeichnet, wie zum Beispiel das Lesen und Sammeln von analogen Innenarchitektur-Magazinen und Büchern, kann sie nicht verstehen, warum sich die Gesundheitsversorgung so schwer mit der Digitalisierung tut. Arzttermine bucht Karelle, soweit möglich, online und zu Gesundheitsthemen informiert sie sich im Internet bei Dr. Google oder auf einschlägigen Fachportalen. Ohne diese Recherchen hätte sie möglicherweise nicht so geistesgegenwärtig bei den ersten Anzeichen ihres Schlaganfalls reagiert und sich auf dem kürzesten Weg in das nächste Krankenhaus begeben. Dementsprechend hatte Karelle auch keine Berührungsängste mit digitalen Mental-Health-Lösungen, um ihre Angststörung zu behandeln. Die Panikattacken führten im Verlauf des vergangenen Jahres so weit, dass sie nicht mehr in der Lage war, mit dem Auto Einkaufen zu fahren. Hinzu kam, dass Sie keinen Therapeuten fand, der sich auf Agoraphobie und die damit einhergehenden Panikattacken spezialisiert hatte. Dass es die notwendigen Instrumente und Therapien gab, um ihr Problem zu behandeln, wusste Karelle. Es gab nur keine Möglichkeit, diese zeit- und ortsunabhängig in Anspruch zu nehmen. Und umso mehr war sie es leid, immer wieder ihre Leidensgeschichte zu erzählen und keine praktischen Übungen an die Hand zu bekommen. Schließlich stieß sie bei ihrer Recherche auf eine deutsche App, die sie auf Englisch nutzen konnte und die ihr dabei half, besser mit ihren Panikattacken umzugehen.
Auf Agoraphobie spezialisierter Therapeut:innen waren schwer zu finden, die Empfehlung für die Gesundheits-App gab es im App-Store.
Sie hatte sich online mit allen verfügbaren Informationen zur Agoraphobie vertraut gemacht und war sich über die Fehlalarme in ihrem Kopf, die ihr in Form von Panikattacken den Alltag unmöglich machten, bewusst. Wie sollte ihr nun eine App dabei helfen, das vorhandene Wissen im Alltag anzuwenden?
Die Macher:innen von Mindable beschreiben in der Produktinformation, dass sie das Rad zur Behandlung von Angststörungen nicht neu erfinden. Die Anwendung basiert auf einem evidenzbasierten Behandlungsmanual mit dem Namen "Expositionsbasierte Therapie der Panikstörung mit Agoraphobie" von Dr. Thomas Lang und Dr. Sylvia Helbig-Lang, das von Therapeut:innen als Standardwerk bei der Therapievorbereitung und -durchführung verwendet wird. Gemeinsam mit den Autor:innen hat Mindable das Manual in eine interaktive Mental Health App verwandelt, die von Patient:innen mit oder auch ohne therapeutische Begleitung angewendet werden kann. Karelle erkannte die Übungen der App schnell wieder, was ihr Vertrauen vergrößerte und sie in der Benutzung der App bestärkte. Sie war sich sicher, dass sie auch ohne therapeutische Begleitung damit arbeiten könnte – zumindest aber so lange, bis sie einen Therapieplatz gefunden hätte. Die App basiert wie das Manual auf den Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) mit einem Fokus auf dem Konfrontationsverfahren. Diese werden in den S3-Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen empfohlen. Karelle nutzte das dreistufige, von der App angebotene Trainings-Programm.
Das Trainings-Programm besteht aus drei Komponenten: der Psychoedukation, der Symptomprovokation und der Konfrontation.
Mit Hilfe der ersten Komponente, der Psychoedukation, lernte Karelle auf der Basis von kurzen Texten, Lehrvideos und Übungen mehr über das Krankheitsbild der Agoraphobie und entwickelte so ein Bewusstsein für die eigene Erkrankung. Was sind Angst und Panik? Wie werden Panikattacken ausgelöst? Und was kann man gegen eine Panikstörung tun? Das sind nur drei von vielen Fragen, die in einem kompakten und ansprechend illustrierten Format beantwortet werden. Aus einer Liste wählte Karelle die ihr bekannten und von ihr in der Vergangenheit verwendeten Sicherheits- und Vermeidungsstrategien aus, die sie im Verlauf des Programms, bei späteren Konfrontationen Schritt für Schritt reduziert sollte. Wenn sie zum Beispiel beim Anstehen im Supermarkt regelmäßig Musik hörte, um sich abzulenken bestand nun die Aufgabe darin, diese Verhaltensweise zu unterlassen, also so lange wie möglich anzustehen, ohne sich dabei mit Musik abzulenken. Oder, in Zukunft auch einmal ohne Telefon aus dem Haus zu gehen oder im Einkaufszentrum nicht vorab zu kontrollieren, wo die Notausgänge sind.
Mit Hilfe der zweiten Komponente, der Symptomprovokation, hat Karelle die Körpersymptome, die bei einer Panikattacke auftreten zu Hause anhand von inneren Reizen gezielt provoziert. Die Übungen fordern die Nutzer:innen dazu auf, 30 Sekunden die Luft anzuhalten, zu hyperventilierten, auf ein Schwindelbild zu schauen oder sich schnell im Kreis zu drehen. Sie können beliebig oft wiederholt und die auftretenden Symptome und deren Intensität dokumentiert werden. So konnte Karelle einerseits über einen Zeitverlauf hinweg erkennen, ob das Training bzw. die Reduktion des Sicherheitsverhaltens zu einer Gewöhnung an die Körpersymptome führte und gleichzeitig wurde sie motiviert und darauf vorbereitet, äußere Reize in Alltagssituationen zu konfrontieren.
Im Rahmen der dritten Komponente, der Konfrontation, wählte Karelle eine Situation, die bei ihr zu Panik führte, in die sie sich aber grad noch zutraute, hineinzubegeben. Die App bietet zum Beispiel Situationen wie Bus- und Bahnfahren, ins Kino gehen oder eine Brücke überqueren an – es können aber auch eigene Situationen hinzugefügt werden. Für Patient:innen die sich keine Konfrontation alleine zutrauen, besteht auch die Möglichkeit, die Übungen mit einer Begleitperson durchzuführen. Die Aufgabe der Konfrontationen besteht darin, sich ohne die Verwendung von Ablenkungs- und Vermeidungsstrategien in die jeweilige panikauslösende Situation zu begeben und dabei live mit Hilfe der Lautstärketasten auf dem Smartphone das individuelles Panik-Level zu dokumentieren. Eine Stimme gibt über die Kopfhörer Feedback, auf welchem Level man sich grad befindet. Karelle ist mit dieser Übung regelmäßig zum Baguette-Kauf in den Supermarkt gefahren. Im Anschluss konnte sie anhand einer grafischen Darstellung beobachten, wie sich die zu Beginn extrem empfundene Angst über den Zeitverlauf der Konfrontation hinweg immer stärker reduziert hat. Die Idee hinter der Konfrontation ist, dass die Patient:innen die auf sie einströmenden Reize bewusst zulassen. Adrenalin wird ausgeschüttet und das Gefühl der Angst wird so lange konfrontiert, bis der Hormonvorrat verbraucht ist und die Angst und Erregung von allein wieder verschwinden. Mindable vergleicht das mit dem Wutanfall eines kleinen Kindes, der erst abklingt, nachdem er ausgesessen wurde.
Die App hat Karelles Sportsgeist geweckt, bis sie es zu weit trieb und eine große Panikattacke erlitt!
Motiviert und gepusht von den eigenen Erfahrungen und Fortschritten hat sich Karelle immer intensiver mit ihren Trainingseinheiten beschäftigt, bis sie sich zu schnell, zu viel zutraute und damit eine enorme Panikattacke provozierte. Trotz der Warnung durch Mindable, notwendige Erholungspausen einzuhalten hatte Karelle die Intensität der Konfrontationen zu schnell erhöht und die Wucht einer großen Panikattacke einfach unterschätzt. Nach diesem unangenehmen Erlebnis war ihr klar, dass sie nicht nur allein auf die App bauen sollte, sondern darüber hinaus auch eine therapeutische Begleitung in Anspruch nehmen musste. Glücklicherweise hatte sie in der Zwischenzeit einen Therapeuten gefunden, der einerseits bereit war, das Programm der App in seine psychotherapeutische Behandlung zu integrieren und andererseits ihre Therapie medikamentös zu begleiten. Diese Kombination verwendet Karelle bis zum heutigen Tag und tauscht sich regelmäßig zu den Ergebnissen, der mit Hilfe der App durchgeführten Konfrontationen und Check-ups, mit ihrem Therapeuten aus. Heute ist sie viel besser in der Lage, ihr Wohlbefinden selber einzuschätzen. Anhand der grafischen Visualisierungen und Kurven erhält sie verlässliche Informationen, wie es ihr in den letzten Wochen wirklich gegangen ist. Denn oft hat sie das Gefühl, viel größere Erwartungsängste und viel häufiger Panikattacken zu haben, als sie tatsächlich dokumentiert hat. Nicht, weil sie lückenhaft dokumentiert, sondern weil das übersteigerte Leidensgefühl und -empfinden Bestandteil der Agoraphobie ist.
Insbesondere den Patient:innen muss klar sein, dass es sich bei Mindable nicht um ein Lifestyle- sondern ein Medizinprodukt handelt!
Am Beispiel von Karelle zeigen sich einerseits der Nutzen, aber auch die Grenzen von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Ebenso wie verschreibungspflichtige Medikamente sollten Gesundheits-Apps nicht losgelöst von einer medizinisch/therapeutischen Behandlung angewendet, sondern in einen funktionalen Behandlungskontext eingebettet werden. Mindable führt auf ihrer Website explizit Anwendungsszenarien und -kontexte auf, in denen die Verwendung der App empfohlen wird. So können Wartezeiten bis zum Therapiebeginn überbrückt werden, insbesondere wenn es auf regionaler Ebene an Versorgungsangeboten fehlt. Die App kann therapiebegleitend eingesetzt werden und dabei helfen, den Verlauf und Erfolge zu visualisieren. Nicht zuletzt empfiehlt Mindable, die App nach erfolgreichem Therapieabschluss im Rahmen einer Rückfallprophylaxe zu verschreiben. Damit ist die Anwendung ein weiterer und im Vergleich zu Medikamenten niederschwelliger Therapiebaustein, der die Behandlungsqualität mit Hilfe von praktischen Übungen, strukturierten Aufgaben und mit dokumentierten Behandlungsverläufen unterstützen und verbessern kann. Insbesondere den Patient:innen muss klar sein, dass es sich bei Mindable nicht um ein Lifestyle- sondern ein Medizinprodukt handelt, dass auch in einem medizinischen Behandlungskontext und nicht zur ausschließlichen Selbsttherapie eingesetzt werden sollte.
In der Zusammenarbeit mit Therapeut:innen können Behandlungsdaten und Grafiken derzeit sowohl als PDF exportiert, als auch strukturiert direkt im maschinenlesbaren JSON-Format (FHIR) in die medizinischen Dokumentationssysteme überführt werden. Im Rahmen der Telematikinfrastruktur (TI) ist die Übernahme von Daten in die elektronische Patientenakte (ePA) sowie die Verwendung der Daten in anderen Behandlungskontexten geplant.
Seit Mai dieses Jahres gibt es Mindable in Deutschland als App auf Rezept.
Für die Patient:innen ist die Nutzung der Mental Health App kostenfrei. Seit Mai kann Mindable kann als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) und App auf Rezept mit einer diagnostizierten Agoraphobie (F40.0) oder einer Panikstörung (F41.0) von Ärzt:innen oder Therapeut:innen verschrieben werden. Die Patient:innen erhalten ein Rezept, dass sie bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse einreichen und erhalten im Anschluss von dieser einen Freischaltcode, mit der sie schließlich die App in vollem Umfang nutzen können. Bis auf die Notwendigkeit eines internetfähigen Smartphones entstehen so Patient:innen und Therapeut:innen keine zusätzlichen Kosten. Wer sich in Deutschland auch ohne Rezept einen ersten Eindruck von der App machen möchte, kann sie im Read-Only-Modus verwenden. Für privat Versicherte ist es derzeit nicht ganz so einfach, denn die müssen vorab mit ihrer jeweiligen Krankenkasse klären, ob diese die Erstattung übernimmt. Im Rahmen der vorläufigen Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt Mindable derzeit klinische Studien durch, die eine deutliche Verbesserung der klinischen Symptomatik, der Lebensqualität und eine Minimierung der Einschränkungen im Alltag der Patient:innen belegen sollen. Präklinischen Daten, die auch mit Patient:innen wie Karelle gewonnen wurden, deuten bereits darauf hin, dass das der Fall ist. Bei der App handelt es sich um ein zertifiziertes Medizinprodukt der Klasse I (MDD). Die Anwendung kann anonym unter Angabe eines Pseudonyms genutzt werden. Nur der jeweilige App-Store verfügt über die Information, dass man die App heruntergeladen hat. Die Datenverarbeitung erfolgt in Deutschland.
Mindable gibt es jetzt auch auf Französisch!
Karelle ist dankbar, dass sie in der akuten Phase ihrer Agoraphobie und während des Lockdowns auf das Angebot von Mindable gestoßen ist und die App auch auf Englisch angeboten wurde. Ohne ein vergleichbares Angebot hätte sie sonst akut keine Hilfe erhalten. Auch aus diesem Grund hat Karelle Kontakt mit Linda, der Gründerin von Mindable aufgenommen, und angeboten, bei der Übersetzung ins Französische zu helfen. Heute kann die App auch in französischer Sprache genutzt werden.
Comments